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60 Jahre Volksrepublik China
Mao, Klassenkampf und Freudentaumel


Unsere dramatischen Erlebnisse und unsere Suche nach der Wahrheit

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Von Martin und Margarete Kummer (Text und Fotos)

„Nin hâo (Guten Tag), Peking!“
Nach dem historischen, dramatischen April 1976 im letzten Jahr von Mao Tse-tungs mörderischer „Kulturrevolution“ stehen wir wieder auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ – als Reporter diesmal im goldenen Oktober 2009, nach 33 Jahren! Dort, wo Chinas „Großer Vorsitzender“ Mao vor jetzt genau 60 Jahren, am
 1. Oktober 1949, seine Volksrepublik ausgerufen hatte.

Die Volksrepublik, 27mal größer als unser Deutschland, inzwischen vom Entwicklungsland raketenhaft zur Wirtschafts- und Weltmacht emporgeschossen, der karge Alltag des vom 918 Millionen auf 1,4 Milliarden Menschen angeschwollenen Volkes unvorstellbar gewandelt: ohne Hungersnot, mit Wohlstand immerhin schon für hunderte von Millionen und sogar mit Luxus bis zur goldenen Rolex-Uhr, zum Porsche und Rolls-Royce. Alleinherrscher aber ist weiterhin Maos Kommunistische Partei (KPCh). Und wer daran rüttelt, wird bestraft.

„Die Kommunistische Partei Chinas ist der führende Kern des ganzen
 chinesischen Volkes. Gäbe es keinen solchen Kern, dann könnte die Sache des Sozialismus nicht siegen.“ *Mao Tse-tung (1893-1976), Gründer der Volksrepublik China

Auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ (auf Chinesisch Tian’anmen) der 18-Millionen-Hauptstadt bei strahlendem Sonnenschein Volksfeststimmung mit Freudenjubel zum 60. Geburtsjahr, der das ganze Land erfasst hat – nichts erinnert an den historischen April 1976 auf diesem Platz, den wir selbst miterlebt hatten. Und doch: 1976 ist Chinas Schicksalsjahr!

Neugierig auf das „Neue China“ und auf seine Vergangenheitsbewältigung im 60. Jahr seiner Gründung machen wir uns auf Spurensuche mit Rückblick, Gegenwart und Ausblick.

„Ich fotografierte den Aufmarsch der Massen, den brennenden Jeep und Schlägereien zwischen den Linksradikalen und den Rechtsabweichlern. Plötzlich löste sich ein etwa 20-jähriger Chinese mit schwarzen Haaren und taubenblauem Mao-Anzug aus der Menge, stieß einen Schrei aus und rannte auf mich zu. Sofort war ich von einem ganzen Heer von Chinesen umzingelt…“

So beginnt der dramatische Live-Bericht, den einer von uns, Martin, am 5. April 1976 nachts heimlich aus Peking an seine Redaktion „Hamburger Morgenpost“ getickert hatte. Der Ort des Geschehens: Der 400.000 qm riesige „Platz des Himmlischen Friedens“ im Herzen der Chinesischen Hauptstadt mit einer Million (!) Menschen.

1976, letztes Jahr der „Kulturrevolution“:
Der 82-jährige Mao schon schwerkrank, sein Ministerpräsident Tschou En-lai stirbt am 8. Januar mit 77 Jahren an Krebs. 4. und 5. April 1976: Maos Gegner („Rechtsabweichler“, „Klassenfeinde“, „Konterrevolutionäre“) aus Fabriken, Unis und Schulen funktionieren die Gedenkfeiern für den „rechten“ Tschou En-lai zu Massendemonstrationen um, huldigen dessen Politik, stecken das Haus der Sicherheitspolizei, Autos und einen Mini-Bus in Brand. Rufe ertönen: „Hoch Tschou En-lai, nieder mit Mao!“ Anti-Mao-Flugblätter werden verteilt.

Mit Grausen erinnern wir uns:
Die „Viererbande“ (Maos Frau und andere) schlägt zurück, lässt Soldaten, Rote Garden und Milizen aufmarschieren, Staatsgebäude und Straßen abriegeln. Fanatische Chinesen, die mich (Martin) für einen russischen Spion halten, schlagen mich nieder, drohen: „Hier kommst Du nicht heil wieder heraus!“ Meine Rettung: Ein Polizist führt mich zum „Tor des Himmlischen Frieden“, bringt mich zum Verhör in eine Zelle. Dann meine Freilassung mit Geleitschutz ins Hotel. Die erste, inoffizielle Bilanz des Aufruhrs in der Hauptstadt: Tote, Verletzte, Brandstiftungen, mehrere hundert Verhaftete.

Und wie berichteten Chinas staatliche Medien damals über den dramatischen Aufruhr im letzten Jahr der „Kulturrevolution“?

Radio Peking, der staatliche Rundfunk, in der Nacht des 5. Aprils: „Unruhestifter“… „Die schwersten Unruhen seit Bestehen der Volksrepublik.“

Die Überschrift der Volkszeitung (Renmin Ribao), von Mao am 15. Juni 1948 gegründet, mit 5,2 Millionen Exemplaren größte Zeitung des Landes und noch heute KPCh-Organ, am 5. April: Sorgfältig lernen, gründlich kritisieren, kämpfen gegen den Aufruhr der Revision.

Heute, nach 30 Jahren Reform- und Öffnungspolitik, urteilt Chinas KP- und Staatsführung über Maos „Kulturrevolution“ und den blutigen April-Aufruhr 1976 offen ganz anders!

In Pekings „Media-Center“ werden wir fündig und lesen erstaunt wörtlich im 172-Seiten-Buch „Einblick in China“, just in diesem Jahr herausgegeben vom Pekinger „Verlag für fremdsprachliche Literatur“: Die „Kulturrevolution“…fügte China die schwersten Verluste und schlimmsten Rückschläge seit Gründung der Volksrepublik zu. Als Sündenbock wird schonungslos Mao genannt, verteufelt aber dennoch nicht: „Seine Fehler stehen im Vergleich zu seinen Verdiensten an zweiter Stelle.“

„Klassenkampf lässt sich nicht essen.“ *Deng Xiaoping (1904-1997), Vater des chinesischen Wirtschaftswunders. 1978, vor 31 Jahren, begann er mit seiner radikalen Reform- und Öffnungspolitik.

Welch ein Zufall: Gleich neben dem „Media-Center“, unter freiem Himmel des „Millennium Monument“, ist die staatliche Foto-Ausstellung „60 Jahre Volksrepublik“ mit 230 Schwarzweiß- und Farbbildern zu sehen. Nach der Begrüßung mit huânyíng! (auf Deutsch willkommen!) steigt unsere Spannung: Wie mag hier der April-Aufruhr in Chinas Schicksalsjahr 1976 bild- und textlich dokumentiert sein? Wir sehen ein Schwarz-weiß-Foto, auf dem ein gestikulierender Mann über der Menschenmenge mit einem Blatt Papier in der linken Hand eine flammende Rede hält. Dazu den Bildtext: 4. April 1976 Das Volk gedenkt auf dem Tian’anmen Ministerpräsident Tschou und wettert gegen die Viererbande. (Unsere Anmerkung: gemeint sind Maos Frau und andere). Mehr nicht…

Kein Bild, kein Wort dieser Zeit auch über Deng Xiaoping, des späteren Wirtschaftswunder-Vaters, für den der April 1976 genauso zum Schicksalsdatum geworden war – von uns ebenfalls erlebt. Es war der 7. April in Shanghai: Während eines Konzerts betrat die Programmansagerin im weißen Kleid plötzlich die Bühne und las uns 5000 Zuhörern die Meldung aus Peking vor: „Der Vorsitzende Mao hat seinen Partei-Vize und stellvertretenden Ministerpräsidenten Deng Xiaoping aller Ämter enthoben.“

Maos Urteil über den „rechten“ Deng, schon zum zweiten Mal entmachtet: „Dieser Mann begreift den Klassenkampf nicht.“ Im ganzen Land entflammen auf Straßen und Plätzen die Macht-Demos der „Linken“ und des Militärs gegen die „Rechtsabweichler“.

Deng in Chinas Jubeljahr 2009:
Wenn Mao, am 9. September des Schicksalsjahrs 1976 gestorben, der „rote Kaiser“ war, dann ist Deng Xiaoping Chinas „roter Vize-Kaiser“ oder gar „roter Geld-Kaiser“ geworden. Milliarden Menschen in China und aller Welt vor dem Fernseher, wir beiden deutschen Reporter auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ werden während der Geburtstagsparade am 1. Oktober Augenzeugen: Gleich hinter Festwagen Nr. 1, auf dem das Riesenporträt von Volksrepublik-Gründer Mao prangt, folgt auf Festwagen 
Nr. 2 Deng Xiaopings Riesenporträt.

„Es ist egal, ob eine Katze schwarz oder weiß ist. Hauptsache, sie fängt Mäuse.“ *Deng Xiaoping (1904-1997), Vater des chinesischen Wirtschaftswunders.

Deng Xiaoping, 1904 geboren – ihm verdankt das 1,4-Milliarden-Volk das „moderne China“ mit wachsendem Wohlstand, seinen Platz als Welt- und Wirtschaftsmacht! Dengs Parole: „Es ist egal, ob eine Katze schwarz oder weiß ist. Hauptsache, sie fängt Mäuse.“ Und: „Klassenkampf lässt sich nicht essen.“ Obwohl nur stellvertretender KPCh-Vorsitzender, nur erster Stellvertreter des Staatsratsvorsitzenden und nur stellvertretender Vorsitzender des Verteidigungsrates steuerte der 1,53 Meter kleine, mächtige Mann von 1978 bis zu seinem Tod 1997 zielstrebig die Reform- und Öffnungspolitik. Sein schriftliches Vermächtnis: „Die Reform-Politik ist für hundert Jahre und darf sich nicht ändern.“



Sieht Chinas Zukunft wirklich so aus?
Wieder werden wir in Pekings „Media-Center“ fündig. In einem aktuellen, 272-Seiten-Buch vom bedeutenden „Chinesischen Institut für Reformen und Entwicklung Hainan“ schreiben acht chinesische, ein deutscher und ein Schweizer Wissenschaftler. Ihre Thesen u.a.: Die Marktreformen sollen die Volkswirtschaft rasch und beständig entwickeln; die politischen Umstrukturierungen sollen die politische Demokratie entwickeln; die Reform des Sozialsystems soll grundlegende und verlässliche öffentliche Dienste schaffen; und die Reform der kulturellen Strukturen sollen ein reges und innovatives kulturelles Leben sowie eine aktivere und dynamischere Strategie für die Öffnung gegenüber dem Ausland schaffen.

„Nur der Sozialismus kann China retten und nur Reform und Öffnung können die Entwicklung Chinas, des Sozialismus und Marxismus sicherstellen.“ *Staats- und Parteichef Hu Jintao (1942 geboren) am 1. Oktober 2009 vom Tian’anmen-Tor im Herzen Pekings, auf dem vor genau 60 Jahren Mao Tse-tung die Volksrepublik China ausgerufen hatte.

Professor Dr. Guan Yu-Chien, der in Hamburg und Shanghai lebt, zum 60. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik: „Wenn man dem Volk Freiheit gibt, kann es Großes leisten.“ Und: „Heute verspürt man innerhalb wie außerhalb der Partei das Bedürfnis, Mao neu zu bewerten.“

Unterwegs in China hören wir immer wieder, vor allem von der jungen Generation: „Mao lebt in unseren Herzen, aber lieben tun wir unser Land.“

„Zu einem guten Ende gehört ein guter Beginn.“

 *Der chinesische Philosoph Konfuzius (vermutlich 551 v. Chr. bis 479 v. Chr.)

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